Freitag, 5. Dezember 2008
And another one.
gestern abend kam dann auch noch T. vorbei und bei drei Flaschen Weißwein diskutierten wir in die Nacht hinein. daher erst jetzt noch der zweite teil des schreibspiels von damals in der wohnung von s.:

Es war an einem Mittwoch. Er wachte auf, es war ein nebliger Morgen. Er stand auf - trank einen starken Kaffe, zog sich an und nahm ein Taxi downtown. "Hi Frank" sagte der Taxifahrer, denn Frank kannte ihn seit Jahren. 1x die Woche fuhr er mit ihm zum Konzert, den Gitarrenkoffer neben sich. Das könnte sein Auftritt sein, eine brüllende Menschenmenge, ein wundervoller Sonnenuntergang, doch heute ist er Zuschauer. Naja, jedenfalls besser als Kai Pflaume zuzuschauen. Ingesamt hätten wir uns aber schon gewünscht, dass wir etwas unbeobachteter gewesen wären. Er zuckte mit den Schultern und warf die leere Flasche in einen übervollen Mülleimer. "Lass uns gehen", sagte er und ging. Aber im Kopf blieb er noch eine kleine Ewigkeit. Die Gedanken kreisten weiter um das soeben erlebte und er sprach: "Wie konntest du das tun? Wie konntest du mich so belügen, wie konntest Du mich so bloss stellen? Ab hier werde ich meinen eigenen femininen und aufgeklärten Weg gehen. Hätte mir doch jemand früher gesagt, dass es soviel einfacher ist, wenn man dumm durchs Leben laufen kann. Aber jetzt... Er kraulte sich am Kinn. Sie sahen sich an. Sie musste laut lachen "komm - lass uns die Stadt von oben sehen." Sie nahmen den Aufzig bis zur Plattform, stiegen aus und kifften erstmal schön einen. Nach einer halben Stunde in den nächtlichen Wolkenhimmel gucken, meinte Frank: "So und jetzt nochmal schön ins warme Meer, bevor morgen unser Fliege zurückgeht ins kalte Deutschland" Und dann verschlungen sie sich in ihrer Leidenschaft, und sie wusste sich nicht mehr zu helfen und legte ihm die Handschellen an.

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Wieder Kollektivschuld 1
Wie sich rausstellte war Alex nicht vom Wortvirus befallen, er hatte in jener wirren Mail jene Zettel gefunden, die wir einst bei S. in der Wohnung in Rödelheim zu viert produziert hatten. Hier seine Abschrift:

All die guten Jungs sitzen abends in der Bar und diskutieren wie es kam, dass die Sovietunion, dann nach Gorbatschov's Machtübernahme, so schnell zugrunde ging. Zudem ist es klar, dass es so nicht weiter gehen kann. Du mit deiner Ignoranz bist dir nur selbst der Liebste. Ich frage mich was das eigentich soll. Vielleicht sollte ich alles hinter mir lassen und nach Australien auswandern, fragte sie sich selbst trotzig und sprang auf das Pferd, dem Fuchs hinterher, der inzwischen mehrere Mengen E603 verschluckt hatte, als er bei Bauer Schlotterbeck die Pestizid-Packung ür einen Leckerbissen hielt. Bedrängt, lief er in Richtung Ausgang. Er rannte über die Strasse, durch den Park, den Berg hinauf. Hier wollte sich in Ruhe zurückziehen. Er kannte die Jagdhütte eines alten Freundes, wo sie vor dem Krieg of lustige Trinkabende verlebt hatten. Im kleinen Laden an der Landstrasse kaufte er Zigarretten und Kuhmilch, frisch vom Bauern. Was er ja besonders hasste, war aber wie sich an der Oberfläche der Milch immer diese eklige Haut bildet. Er schluckte es trotzdem runter und kotzte in die Ecke. So schlecht ging es ihm lange nicht. Nur dieser verdammte Ausschlag wollte nicht verschwinden. Aber das wird vergehen, dachte sie während sie die Tür schloss.

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Mittwoch, 10. Mai 2006
Ataxia (ich bin den ganzen Weg gerannt...)
Man kann die Dinge nicht zwingen. Und die Menschen erst recht nicht.

Ich laufe einen steinigen Weg. Ich bin seit langem unterwegs. Seit Tagen. Seit Wochen. Seit Monaten. Ich laufe unter freiem Himmel. Ich bin das Wetter gewöhnt. Ich laufe im Winter im Frühjahr im Sommer. Ich laufe alleine. Ich habe ein Ziel. Ich laufe nicht um des Laufens willen. Ich kenne den Weg nicht. Er ist nicht gerade, aber ich habe ihn bisher noch immer gefunden. Dort, wo ich hin laufe, will ich sein.

Es beginnt zu regnen. Ich bin den Regen gewohnt. Ich bin im Regen losgelaufen. Ich habe im Winter die vor Kälte schmerzenden Muskeln ertragen. Ich habe gute Tage erlebt und schwere Nächte. Aber ich hab den Weg nicht in Frage gestellt. Weil er der richtige ist, bin ich weiter gelaufen, das Ziel vor Augen, wohl wissend, das es anders sein wird, wenn ich ankomme. Das es die Mühe lohnt war nie eine Frage.

Es beginnt zu regnen. Wieder einmal. Denke ich. Aber dieser Regen ist stärker. Er kommt mit dem Wind und der Wind schlägt die Bäume um und die Bäume legen sich mir in den Weg. Äste peitschen mir ins Gesicht. Ich verliere das Gleichgewicht. Ich stürze. Ich stehe auf. Ich stürze wieder und wieder und irgendwann stehe ich nicht mehr auf. Es regnet. Es ist dunkel, ich erkenne die Silhouette des Waldes. Ich bleibe liegen.

Ich bin den ganzen weg gerannt. Bis ich stürzte. Ich schließe die Augen. Das Dunkel klärt sich. Ein fernes Licht macht den Himmel zum altmeisterlichen Gemälde. Wann ist ein Schlag ein Schlag zu viel? Wenn das Ziel richtig ist, wie beschwerlich darf ein Weg dahin sein? Ich bin zäh. Irgendwann werde ich wieder aufstehn. Eine stützende Hand wird sich nicht finden. Aber für den Augenblick bleibe ich liegen. Der Regen läuft mir kalt übers Gesicht. Er fühlt sich gut an. Ataxia.



Regen. Bass. Gitarre. Schlagzeug.


Saw you walking back from a nightmare
Won't change what you're to do, well I don't care
I grew up there and I wasn't scared
I am from there, I was born there

Forgive me if I cry
Look when you lifted the sky
Everybody emptied their slime
Those memories stole my side

And will you sit by my side,
If me not live past tonight?
Life isn't here and so streaming
What was the feeling to stream again, stream again?

Well that is what we cry
Feelings we keep inside
And you are not in the right
And you've no reason to hide
That's when we must collide
Nothing can overwrite
And you are not by my side
And we will not arrive

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Dienstag, 6. Dezember 2005
bald
der wind des gekippten bürofensters fährt mir ins genick, während gustavs genua in einen jelinek beat übergeht der rhythmus mich weiterwegschiebt vom hier und ringsum die lichter ausgehen weil keiner mehr die bewegungsmelder aktiviert hin und wieder klingt leise eine stimme aus der agenturlounge zu mir wo sie sincity schauen den ich im flugzeug gesehen habe irgendwo über dem pazifik vor wenigen monaten bevor oder nachdem ich beschloss die richtung zu wechseln in die ich treibe ein einsames atoll zu finden wäre ein trost anzulegen für eine weile oder eine ewigkeit das salzwasser täte mir gut heute abend die atemwege befreiend den blick angenehm trübend da wechselt der beat zu einer stewart walker nummer und wirft mich in ein kleines schnelles segelboot das wasser im gesicht schaue ich zum blauen horizont ich erwarte eine rote sonne bald.

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Dienstag, 1. Februar 2005
sitcom
gestern sitz ich in nem praxis wartezimmer. stehn zwei schnauzbärtige mit lederaktenkoffen am tresen. der eine: "ich muss los. die gefahr wartet". der andere: "alles klar. machs gut". der erste: "weißt du was die steigerung von gefahr ist? - gefährtin." pflichbewußtes gelächter beim ersten (sein sohn sitzt in der ecke, sonst wärs wohl lauter ausgefalln), eine betont lässige drehung zur tür des zweiten. ruhe. eine minute lang. dann geht die tür wieder auf. nummer eins kommt rein: "einen hab ich noch..."

mehr nervsprech gibts übrigens hier: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,338954,00.html

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Sonntag, 30. Januar 2005
ein winternachtstraum
um halb zwölf werde ich wach. erschöpft und mit kopfschmerzen geistere ich durch eine völlig leere wohnung. alles ist weiß und schwarz gestreift. moires entstehen, fantasierte farbspiele. drei mal habe ich am frühen morgen das ende eines thrillers vor dem geistigen auge ablaufen sehen. hautnah detailgenau real. dreimal war es anders. und dreimal spielte kate moss die hauptrolle. dachte ich zumindest im traum. das setting ist ein düsteres feld in einer hügeligen landschaft. eine hütte steht dort. eine mondscheinnacht.

in einem fall tötete ich sie, die böse weibliche hauptrolle, ohne spuren zu hinterlassen, mit ihrer eigenen haarnadel. während sie mir liebe lust leidenschaft vorspielte hatte sie diese aus ihrem haar gefingert, aber ich war schneller. klingt nach basic instinct, oder ninas alibi, dieser agentenkomödie mit tom sellek und paulina wieheißtdienochmal. war aber dramatischer düsterer nebliger.

das zweite ende: ich, ein weiterer agent (freund oder feind vermag ich in der schimmernden leere nicht zu erinnern) und besagte weibliche hauptrolle, gespielt von kate moss - warum eigentlich dieses spindeldürre model? die fand ich noch nie wirklich gut, vielleicht liegt hier auch eine falsche namensassoziation vor und ich meine carrie-ann moss, die spielt auch thriller. wehe dem der im traumland taumelt... - halren uns in der nähe der hütte auf, während ein suchtrupp, angeführt von einem bulligen kerl namens burger, beginnt, die felder rundum abzufackeln. während uns das lodernde inferno langsamt einkreist und immer enger wird, gelingt mir die flucht durch die flammen. ein ende, das offen läßt, ob ich die gefährliche nun wirklich los bin, da ich ihren tod nicht bezeugen kann. (und natürlich tauch sie im sequel wieder auf und ihre flucht wird rückblickend minutiös geschildert.)

die dritte variante ist mir völlig entfallen und während ich durch das einzige kleine quadratische fenster hinausschaue und darüber grübele, was das alles zu bedeuten hat, legt sich draussen der schnee über eine leere hügellandschaft, weiss & dicht.

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Sonntag, 22. August 2004
Streichelzoo
Gestern abend nach einem Killeressen bei Elfriede, die übrigens vor 25 Jahren nach Berlin gekommen ist, aus Hessen, weshalb sie auch Handkäs mit Musik erklären kann, durch die Hasenheide nach Hause gelaufen und dort ein wenig versackt. Im Fernsehen lief ein seltsamer amerikanischer Tierfilm, mit Todesspinnen und ähnlich appetitlichem, und der Berichtende, der alle haarigen Viecher über die Hand laufen liess, löste sich zuweilen auch mal auf, um dann doch wiederzukehren... Das Schreibspiel jedenfalls konnte sich von diesem Einfluß zu vorgerückter Stunde nicht mehr lösen.

Saure Gurken. Das Trieb mir das Wasser in die Augen. Ich hob den | oberen Teil der Muschel, * der von einem kleinen Tintenfisch geöffnet wurde. | Ich hätte gern ein Aquarium * mit einem kleinen Tintenfisch, der in einer Muschel wohnt. Ich könnte mich dann an seinen | scheuen Blicken aus der Muschel erfreuen. * Nicht zu vergessen die Bergschweinchen, die in Form von Trüffelbergschwein-| chen durchaus nicht zu verachten sind, * aber essen? Essen wollt ich sie dann doch | nicht, die riesigen Aasfresser, * die in meinen Träumen niemals auftauchen sollten. | Lieber wäre mir ein Huhn. * Das legte jeden Tag ein Ei und Sonntags auch mal zwei, oder so ähnlich. Nein, besser | Schlangen, fiese Gift- und Würgeschlangen, * die mittels handwerklichem Geschick fieser Fleischwunden verteilen. |*
Ein weisses Blatt. Leere, Grenzenlos. Der Wahnsinn | ausser Kontrolle. * Es ist zu spät. | Ich löse mich auf! * Hätte ich mich doch besser für ein Meerschweinchen entschieden und nicht für diese schleimsaugenden Monster- | spinnen, * spinnen ein Leben lang und wenn sie nicht gestorben sind, so spinnen sie noch heute...


(Marco, Rike, Mario, Ray ).
| = Knick; * = Autorenwechsel; (soweit erkennbar)

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Dienstag, 20. Juli 2004
Kollektivschuld, again.
Wie gesagt, von Zeit zu Zeit ergibt sich dieses Falt&Schreibspiel. Hier nun die Story von gestern (eine von dreien), sie darf wohl als eine der bisher besten gelten. Und wie zufällig hab ich gerade eben beim aufräumen noch zwei ganz alte gefunden, die ich dann irgendwann nachliefere, eine davon ist der lang vermisste Hilde-Nachruf.

Geschredderte Menschen lagen verteilt auf der Wiese, / die an sich blühte. Blutrünstige * Blume. Man konnte sich nicht schützen. / Für ewig war man in ihren Bann gezogen. * Oder war es in ihren Baum, ein uralter Redwood, oben in den / Gipfeln, 80 m über der Erde schwebte, * völlig schwerelos! / Oben auf dem Berg stand eine Bude, in der * vorgedrehte Joints und Mescalincocktails angeboten wurden, wie anderswo es sie nie- / mals gegeben hätte. Die Kakteen wurden eingebuddelt. Jetzt erstmal einen Tequila. /
Die feucht-warme Luft tat ihr übriges * dazu, dass die Lieder auf Abwege gerieten, Swimmingpoolgesänge, / Feierabendblues, eine Stunde versinken * und vor sich hin träumen... Qualm wabert aus den Kanaldeckeln, / und in den grauen Vorstädten * ragten die geometrisch perfekt geformten Bauten der Betontermiten empor. Es waren / extrem glatte Quader aus hochfestem Beton hingestellt. Doch / haarfeine Risse zogen sich * die Eiskruste entlang.
Die klirrende Kälte war wunderschön, * die Fahnen im Winde, sie wiesen die Richtung, dorthin, wohin uns unsere Gedanken / vorauseilen, das Schweben * über dem Leben - so leicht / und doch so schwer! Aber nur manchmal, denn oft ist auch ein leichter Zupfer am Haken ein Fisch. Doch schon wieder diese Schlangen / mit ihren Giftzähnen * in den Apfel biß. Hatte die Schlange / da etwas verwechselt? * Und wenn schon - es war richtig.


(Sven, Rike, Marco, Bettina, Mario).
| = Knick; * = Autorenwechsel; (soweit erkennbar)

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Freitag, 4. Juni 2004
Scharf wie'n Terrier
Heute, einen Tag nach dem 25. Todestag Arno Schmidts, war ein gelbes Buch in der Post:

Rudi Schweikert (Hg.):
"Da war ich hin und weg"
Arno Schmidt als prägendes Leseerlebnis
100 Statements und Geschichten.
Schriftenreihe der GASL, Bd. 6.

Darin, auf S. 341, eine mit dem Titel:

“Scharf wie'n Terrier macht se!”

Als ich mich selbst nach meiner ersten Begegnung mit Arno Schmidt fragte, musste ich einen Moment nachdenken. Dann erinnerte ich mich. Es muss um 1990 herum gewesen sein, als Schüler der Oberstufe an einem Gymnasium auf dem Hunsrück, nicht allzu weit von Kastel an der Saar also, wo Arno Schmidt von 1951 bis 1955 lebte.

Zusammen mit einer Freundin, ihrer älteren Schwester und deren Freund (wobei ich nicht mehr weiss, wer von ihnen auf die Idee kam und ob jemand überhaupt Arno Schmidt bis dahin kannte) fuhren wir ins immerhin rund 150 km entfernte Kaiserslautern, um eine Lesung von Passagen aus Zettels Traum zu hören, synchron gelesen von drei Sprechern, ich vermute, es war das Dreiergespann Reemtsma Rauschenbach Kersten, aber beschwören könnt' ich's nicht.

Wir saßen in einem vollen, gedrängten Raum, inmitten hüstelnder Honoratioren, die Sicht durch Pfeiler unterbrochen (zumindest ist mir im verschwommenen Rückblick so, als sei es eine Kirche oder ähnlich ehrerbietendes gewesen, vermutlich war’s eher ein Weinkeller), aber was ich da hörte und erfuhr, begeisterte mich. Ein Buch, weit mehr als tausend großformatige Seiten, jede davon in drei Spalten geschrieben, parallel zu lesen mit drei Sprecher. Eine Klangcollage, die lebendig & detailliert einen Sommertag in der Heide wiedergab, inkl. Grillengezirpe Vogelgezwitscher Gedankenblase. Wow!

Ich war beeindruckt und ich erinnere mich, dass ich, zurück in der Provinz, meinem Deutschlehrer berichtete. Ich glaube, er hatte den Namen Arno Schmidt schon einmal gehört.

Später, als Student der Germanistik an der Uni Trier, ließ ich mir gelegentlich das einzige Präsenzexemplar von Zettels Traum aus dem Magazin holen, um in einem Kabäuschen darin zu blättern und hier und da einige der maschinengeschriebenen Zeilen zu lesen.

Zur gleichen Zeit begann ich aber auch, Arno Schmidt wirklich zu lesen. In meinem Exemplar von "Sommermeteor", einem Band mit 23 Kurzgeschichten, das ich gerade aus dem Regal gezogen habe findet sich folgende Notiz: "Am 2. November '92. Trier. Zu lesen in rollenden Nächten." Der Band enthält die wunderbare Geschichte "Seltsame Tage" (mit ihrem Doors-Titel) oder "Nebenmond und Rosa Augen". Dann las ich Brands Haide, die Gelehrtenrepublik, das Haffmanns-Büchlein Der Platz an dem ich schreibe und das Doppelbändchen Die Umsiedler und Seelandschaft mit Pocahontas. Zu letzterem erstellte ich eine Seminararbeit mit Anmerkungen und Worterläuterungen und erstmals machte ich mir bewusst, was mich so faszinierte an diesen Texten: die absolute Präzision der dargestellten Augenblicke, die Konkretheit der sprachlichen Bilder, das Dokumentarische der Zeitbeschreibung.

Zwei Jahre lang arbeitete ich als Aushilfe und während der Sommerferien in einer Fachbuchhandlung. Dort kam mir ein langformatiges Plakat in die Hände. Arno Schmidt ist darauf zu sehen, in Lehrertracht (zumindest sahen bei uns die meisten Lehrer so aus): ein helles Hemd, darüber Pullover mit V-Ausschnitt, kordhose und Schlappen. Er steht, leicht angelehnt an einem Lattenzauntor, um den Hals ein Fernglas. Darunter ein Zitat aus Das steinerne Herz: "(Intelligenz lähmt, schwächt, hindert ?: Ihr werd't Euch wundern!: Scharf wie'n Terrier macht se ! !)." . Ich riss mir das Plakat untern Nagel und hing es in meinem Studentenzimmer auf, zur Verwunderung mancher Freunde & Kommilitonen über diesen seltsamen alten Kauz.

Zugegeben, danach wurde es ruhig. Irgendwo erstand ich noch die drei Bände mit Texten zur angelsächsichen Literatur, aber nachdem ich Trier zugunsten Berlins verlassen hatte, las ich vornehmlich andere Autoren: neben den Beats und Autoren wie W.S. Burroughs und Rolf Dieter Brinkmann vor allem theoretische Texte der Postmoderne. Ausserdem begann ich, mich intensiver mit den sog. Neuen Medien zu beschäftigen, in deren Umfeld ich ja später auch beruflich tätig wurde...

Über ein Abonnement der Zeitschrift konkret kam ich dann an die 4bändige Studienausgabe aus dem Haffmanns Verlag, aber ich arbeitete nun, und in der Geschäftswelt hatte Arno Schmidt keinen richtigen Platz und so las ich in der vor allem die kürzeren Text (wie die wundersame Tina, oder über die Unsterblichkeit), bis ich meine Festanstellung aufgab und Freiberufler wurde und mich nun verstärtkt wieder mit privaten Forschungen und Expeditionen in diese oder jene Bereiche beschäftigte.

Im vergangenen Jahr stieß ich auf die Arno Schmidt Mailing Liste, und das Gefühl, als (wenn auch nur sporadischer) Arno Schmidt Leser einer bunten verschworenen Gemeinschaft anzugehören, bestätigte sich aufs neue. Denn nach wie vor findet man nicht allzu viele, denen der Autor Arno Schmidt etwas sagt, obwohl sich doch (aus meiner beschränkten Sicht) die Bekanntheit und vor allem die Verfügbarkeit von Texten in den vergangenen Jahren wesentlich verbessert haben. Mein Interesse erwachte neu, ich grub meine alte Seminararbeit zur Seelandschaft aus - und fand sie schrecklich. Wie nachlässig war ich als Student eigentlich? Ich beschloss dennoch, sie demnächst einmal zu überarbeiten, und sie bei Gelegenheit den Interessierten zur verfügung zu stellen.

Eine Genre, mit dem ich mich sehr stark in der jüngsten Zeit beschäftigt habe, ist die Science Fiction, wobei es (neben dem Technik-Philosophen Stanislaw Lem) in erster Linie die amerikanischen Autoren (insb. des Cyberpunk) sind, die mich interessieren (ich hatte auch die Gelegenheit eine ganze Reihe phantastisch-utopischer Romane aus der DDR zu erstehen, aber zu oft merkt man ihnen den schreibenden NVA-Leutnant an...). Auch vor diesem Hintergrund habe ich vor, Arno Schmidt erneut zu entdecken.

Es ist eine Qualität von Cyberpunk Autoren wie William Gibson und Bruce Sterling, dass sie ihre (und damit unsere) Gegenwart genau beobachten und dokumentieren, um schließlich diese Beobachtungen auf eine nahe Zukunft hochzurechnen. Unter diesem Aspekt darf Arno Schmidt getrost als ein Vorläufer der Gattung gesehen werden.

Auf meinem Nachttisch liegt nun Schwarze Spiegel... Mal sehn, wohin die Reise geht...

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Freitag, 9. April 2004
He's got a ticket to ride
Busfahrer (schiebt seine goldgerahmte Brille über die Halbglatze): Kann ick mal sehen?
Der Fahrgast hält ihm geduldig, aber mit Verachtung im Blick, das Ticket vor die Nase.
Busfahrer (sich ereifernd): Les' ich da richtig, bis zum 9. April?
Fahrgast (bestimmt): Ja.
Busfahrer (kleinlaut und beschwichtigend): Ach ja. Ist ja heute.
Fahrgast: Machen Sie das bei jedem?
Busfahrer: Was denn? Hätte ja sein können... Fast wärs ja auch nicht mehr gültig gewesen.
Fahrgast: Seh ich aus, als würde ich schwarz fahren? Und was heisst hier eigentlich "fast"? Dieses Ticket ist gültig bis zum 9. April. Heute ist der neunte April. Ein Ticket ist gültig oder es ist nicht gültig. Fast gültig gibt es nicht. Und solange mein Ticket gültig ist, werde ich unbehelligt mit diesem Bus fahren, denn ich habe verdammt nochmal dafür bezahlt. Ich pöble nicht rum, ich stinke nicht und ich habe einen gültigen Fahrausweis. Wenn ich will kann ich damit den ganzen Tag auf ihrer Strecke hin- und herfahren und es geht Sie einen Scheiss an, (während er spricht, geht seine Hand zur Manteltasche, in diesem Moment zieht er zieht einen Revolver und hält ihn sich an dei Schläfe) ob ich jetzt damit zu meiner eigenen Hinrichtung oder zu einem Banküberfall fahre... und jetzt fahren sie um Gottes Willen endlich los!
Der Fahrgast richtet den Revolver auf den verängstigten Busfahrer. Die anderen Fahrgäste schauen gelangweilt. Der Busfahrer tritt aufs Gas und setzt den Bus in Bewegung. Der Fahrgast lässt den Revolver sinken und setzt sich.

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