Sonntag, 25. Juni 2006
Zeit ist kein Gegenstand
»Sie haben Kinder gern?«
»0 ja«, antwortete Kirillow, jedoch in ziemlich gleichgültigen Ton.
»Also lieben Sie auch das Leben?«
»Ja, auch das Leben; wieso?«
»Wenn Sie doch beabsichtigen, sich zu erschießen.«
»Nun und? Warum bringen Sie das zusammen? Das Leben ist eine Sache für sich und das andere auch. Das Leben existiert; aber der Tod existiert gar nicht.«
»Sie haben angefangen, an ein künftiges ewiges Leben zu glauben?«
»Nein, nicht an ein künftiges ewiges Leben, sondern an ein ewiges Leben hier. Es gibt Augenblicke, man gelangt zu Augenblicken, wo die Zeit auf einmal stehen bleibt und zur Ewigkeit wird.«
»Und Sie hoffen zu einem solchen Augenblicke zu gelangen?«
»Ja.«
»Das ist in unserer Zeit wohl kaum möglich«, erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch langsam und nachdenklich und ebenfalls ohne alle Ironie. »In der Offenbarung St. Johannis schwört der Engel, daß es keine Zeit mehr geben wird.«
»Ich weiß. Das ist da sehr richtig gesagt, klar und genau. Sobald ein jeder Mensch das Glück erreicht hat, wird es keine Zeit mehr geben, weil sie dann nicht mehr nötig ist. Ein sehr richtiger Gedanke.«
»Wohin wird denn die Zeit versteckt werden?«
»Nirgends hin. Die Zeit ist kein Gegenstand, sondern eine Idee. Sie wird im Geiste erlöschen.«

(Dostojewski: Die Dämonen)



Fast acht Jahre ist es her, als ich Jürgen im Literaturhaus an der Bockenheimer Landstraße interviewte. Das Literaturhaus ist im letzten Jahr umgezogen und der Artikel erschien vor wenigen Jahren in einem Buch mit Texten von und über ihn selbst, die letzte dimension. Das letzte Mal, dass ich ihn traf, dürfte vor zweieinhalb Jahren gewesen sein. Ich hatte eigentlich einen Vorstellungstermin bei O., aber als ich schon in der Bahn saß, erreichte mich ein Anruf, dass O. krank sein. Ich rief also kurzerhand Jürgen an und fragte ihn, ob wir uns treffen wollten, er wollte und wir trafen uns. Im Cafe Laumer, auch auf der Bockenheimer, er wohnt irgendwo im Westend und bei dieser Gelegenheit stellte ich ihm den Stand des Raumagentenprojektes vor, das damals schon 2 Jahre lief, ich hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen, aber Jürgen meinte nur: "Das macht nichts. Ich habe mich längst daran gewöhnt, dass die Dinge ihre Zeit brauchen. Ich kann vieles ohnehin nicht chronologisch zuordnen." Das war ein Satz, der mir seitdem immer wieder durch den Kopf geht, und immer wenn ich ihn denke, denke ich daran, dass es (schriftlose) Völker gibt, die keinen Begriff der Geschichte haben, keine Jahre, keine Zuordnung der Ereignisse auf einem linearen Zeitstrahl. Für sie gibt es den Wechsel der Jahreszeiten, ein ständiges Entstehen und Vergehen, einen Kreislauf des Werdens und Sterbens. Geschichte aber kommt durch die Geschichtsschreibung, durch die Schrift also letztlich, die lineare Abfolge von Zeichen in der Zeit. In diesem Sinne verstehe ich Kirillows Worte, dass die Zeit "im Verstand verlöschen" wird, wenn jeder Mensch glücklich ist. Und wer möchte bestreiten, dass die Zeit, in Momenten des Glücks, aufgehoben ist? Dennoch - und das hätte wahrscheinlich weder Dostojewski, noch Tarkowski, der die Dämonen zu Beginn seines Aufsatzes über "die versiegelte Zeit" zitiert, bestritten: wollen wir die Ideen ändern, dann müssen wir zuerst die Umstände ändern, in und aus welchen die Ideen geboren werden...

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